Zwischen Republik und Diktatur: Die Studentenschaft der Phillips-Universität Marburg in den Jahren von 1925 bis 1945

Die Grundlagen

Grundlage dieses Buches ist meine Dissertation mit dem Titel: “Die politische, gesellschaftliche und institutionelle Entwicklung der Studentenschaft der Philipps-Universität Marburg zwischen 1925 und 1945.”
Die Arbeit wurde im Fachbereich Geschichte, Fachgebiet Neueste Geschichte (Lehrstuhl Prof. Dr. Peter Krüger, Zweitgutachter Prof. Dr. Wilhelm E. Winterhager) erstellt und bildet einen Beitrag zur Universitätsgeschichte der Philipps-Universität Marburg.
Die Arbeit ist im SH-Verlag Köln in der Reihe Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen als Band 11 unter dem Titel “Zwischen Republik und Diktatur. Die Studentenschaft der Philipps-Universität Marburg in den Jahren von 1925 bis 1945” erscheinen.
Insgesamt hat die Promotion einen Umfang von 671 Seiten. Hiervon entfallen etwa 50 auf Methodenteil, Literatur- und Quellenüberblick. Rund 310 Seiten nimmt die Darstellung der Verhältnisse in der Marburger Studentenschaft in den Jahren der Weimarer Republik ein. Etwa 240 Seiten beansprucht die Aufarbeitung der Geschichte der Studenten an der Philipps-Universität Marburg in den Jahren des Nationalsozialismus. Mehr als 50 Seiten nimmt das Quellen- und Literaturverzeichnis ein.

Was wurde untersucht?

In den Jahren zwischen 1925 und 1945 vollzog sich in der Marburger Studentenschaft ein mehrfacher Wandel auf vier Ebenen: Um die Komplexität der studentischen Verhältnisse und ihre Veränderungen darzustellen, ist es notwendig, ein sehr breites Spektrum von Einflüssen auf die Studentenschaft aus Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik und ihre Wechselwirkungen zu untersuchen.
Ziel dieser Arbeit ist es, mit Hilfe des Instrumentariums der Geschichtswissenschaften den Wandel in der Studentenschaft der Philipps-Universität Marburg nachzuzeichnen. Aufnahme und Verarbeitung der von außen kommenden Veränderungen sind dabei ebenso zu untersuchen, wie eigenständige Aktionen der Studentenschaft und deren Öffentlichkeitswirksamkeit. Von besonderer Bedeutung ist zudem das nationale und regionale Umfeld der Untersuchung, d.h. Geschichte, Tradition und Leben der studentischen Subkultur allgemein und speziell an der Philipps-Universität Marburg und in der Stadt Marburg. Abweichungen vom allgemeinen Trend sind zu kennzeichnen und lokale Besonderheiten in der Entwicklung der Studentenschaft im Betrachtungszeitraum zu erläutern.

Welche Ziele sollte die Arbeit erreichen?

Die oben dargestellte Dissertation schließt eine Lücke in der Geschichtsschreibung der Philipps-Universität Marburg. Hierbei steht die Rolle der Studenten, die neben dem Gebiet “Forschung und Lehre” und dem Bereich “Lehrende” die dritte Säule der Universitätsgeschichte bildet, im Mittelpunkt der Betrachtung.
Um dieses Ziel zu erreichen, wurden Ansätze genutzt, die erklären, wie das studentische Leben in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur eingebettet und gleichzeitig davon abhängig ist.
Hierfür mußte zuerst die studentische Subkultur von anderen Gruppen der Gesellschaft isoliert werden. Dies wurde auf gesellschaftlicher Ebene mittels theoretischer Ansätze aus dem Bereich der Subkulturforschung und Eliteforschung erreicht, die auf politisch-ideologischer Ebene durch Ansätze von Hayeks ergänzt wurden.
In einem zweiten Schritt war das Verhalten der so abgegrenzten Teilkultur zu betrachten. Dabei war es notwendig, die bekannten Ansätze der Sozial-, Bildungs-, Kulturgeschichte zu nutzen und sie miteinander so zu verknüpfen, daß ein breites Spektrum von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen erklärt werden konnte.
Ergänzend zu der in der Geschichtswissenschaft üblichen Quellenforschung, wurde versucht, durch halbstandardisierte Interviews mit Zeitzeugen abrundende Informationen zu gewinnen. Bedingt durch die Komplexität der Herangehensweise bei der Befragung von älteren Menschen, mußte besonderer Wert auf methodische Fragen und ein breites theoretisches Fundament gelegt werden.
Zusammenfassend war es das Ziel der Arbeit, eine Toolbox zu entwickeln, mit der die Studentenschaft erstens von anderen Gruppen der Gesellschaft isoliert werden konnte. Zweitens wurden Instrumente bereitgestellt, mit denen die Charakterisierung des Verhaltens innerhalb der Studentenschaft, gegenüber anderen Gruppen und nicht zuordenbaren externen Entwicklungen möglich wurde. Hierbei wurde von einer Wirkung der Makroebene, also des Datenkranzes, auf die Mikroebene der Analyse ausgegangen.

Wie war die Herangehensweise?

Der Untersuchungsgegenstand der Arbeit war die Studentenschaft der Philipps-Universität Marburg in den Jahre 1925 bis 1945. Um ein detailgenaues Bild zu erstellen, war es notwendig, alle Bereiche studentischen Lebens zu analysieren und sie auf ihre Veränderungen im Laufe des Betrachtungszeitraums zu untersuchen. Die vier betrachteten Gebiete waren das ökonomische, das gesellschaftliche, das politische und das rechtliche Umfeld des Studenten. Hierbei könnte innerhalb der Subkultur zwar noch tiefer, z.B. zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Korporierten und Freistudenten, unterschieden werden, doch zuerst mußten gemeinsame Grundtendenzen aufgezeigt werden, bevor an entsprechender Stelle auf untergruppenspezifische Probleme eingegangen werden konnte.
Die Untersuchung der wirtschaftlichen Lage war aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens gab die eigene ökonomische Lage der Studenten oft Anlaß zu Kritik an den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, da das studentische Einkommen einerseits vom Einkommen der Eltern mit zeitlicher Verzögerung abhing, andererseits bestanden für den Studenten kaum Möglichkeiten, makroökonomischen Entwicklungen auszuweichen. Zweitens hing der Wille zum Erfolg im Studium von den zukünftigen Berufsaussichten ab. Es ist also nicht verwunderlich, daß Studenten im besonderen Maß auf die ökonomische Entwicklung reagierten.
Auch auf dem Gebiet des Rechts war das Studentenleben zwischen 1925 und 1945 von diversen Veränderungen betroffen. Zu nennen sind hier zuerst allgemeine Entwicklungen des Rechts, die z.B. im Dritten Reich für einen stark veränderten Hochschulbesuch sorgten. Weiterhin waren die Veränderungen des studentischen Rechts selbst zu untersuchen. Rechte und Pflichten des Studenten, Disziplinarrecht und der rechtliche Rahmen des Lehrbetriebs waren in diesem Zusammenhang zu analysieren. Diesen Entwicklungen standen die Studierenden völlig passiv gegenüber, da Entscheidungen der Behörden im Einvernehmen mit den Vertretern der Universitäten getroffen wurden und die studentische Meinung von der Ministerialbürokratie meist antizipiert wurde.
Die gesellschaftliche Einbindung des Studenten war ein Problemkreis, der in zwei Unterpunkte zerfällt. Erstens stellte sich die Frage nach der Stellung des Studenten in der Gesellschaft als solcher. Dabei ist zu unterscheiden, welches Bild die Gesellschaft vom Studenten hatte und umgekehrt. Zweitens stellte sich die Frage, wie der Student in Marburg in die lokale Gesellschaft eingebunden war. Hierbei war besonderes Augenmerk auf die Organisationsformen der Studentenschaft und ihren Wandel zu legen. Dies war von besonderer Relevanz, da in Marburg das organisierte Studentenleben eine überdurchschnittlich große Bedeutung hatte.
Als letzter Unterpunkt der Untersuchung war das politische Verhalten der Studenten zu betrachten. Auch hier waren zunächst die Einflüsse der Reichsebene auf die lokale Ebene und dann die Auswirkungen der politischen Aktivitäten der Marburger Studenten auf die regionale und überregionale Ebene zu untersuchen. Besonderen Schwerpunkt der Analyse bildeten Politisierungs- und Entpolitisierungsprozesse in der Studentenschaft, ihren Gruppen und Institutionen.

Um die oben genannten Fragestellungen beantworten zu können, wurden drei unterschiedliche methodische Wege beschritten.

Erstens wurde die bestehende Literatur, die sich zum großen Teil in Marburg befindet, gesichtet. Bei der Sichtung zeitgenössischer Zeitschriften mußte das Institut für Hochschulkunde in Würzburg genutzt werden, da dort fast alle relevanten Zeitschriften der Epoche vollständig vorhanden sind.

In einem zweiten Abschnitt, der aus zeitlichen Gründen parallel zu allen anderen Arbeitsabschnitten verlaufen mußte, wurden Zeitzeugen befragt. Halbstandardisierte Interviews wurden genutzt, um einen allgemeinen Eindruck vom Studentenleben der Jahre zwischen 1925 und 1945 zu gewinnen. Durch ein Karteikartensystem wurden die Interviews so gestaltet, daß sie im Ablauf und den wesentlichen Fragestellungen gleich blieben. Auf diese Weise wurde eine annähernde Vergleichbarkeit hergestellt. Zwar konnten meist keine konkreten Angaben zu bestimmten Vorfällen oder Ereignissen gemacht werden, doch gaben die Interviews ein allgemeines Stimmungsbild des studentischen Lebens der damaligen Zeit wider und erleichterten es, einen Einstieg in Denkweisen und Zeitgeist der Jahre zwischen 1925 und 1945 zu finden. Von besonderer Bedeutung waren die Interviews jedoch im Zusammenhang mit der sich im Laufe des Krieges verschmälerten Quellenbasis. Hier waren die Quellen so lückenhaft und unzusammenhängend, daß Erklärungen der Interviewpartner zu grundsätzlichen Verständnis der damaligen Lage hilfreich waren.

Die dritte Möglichkeit, um sich der Fragestellung zu nähern, war das Studium der schriftlichen und bildlichen Quellen in den Archiven. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um die Akten der Philipps-Universität im Staatsarchiv Marburg. Sie wurden, so weit es möglich war, im Frühjahr und Sommer 1998 durchgesehen. Dabei wurden Akten, deren Inhaltsangabe zweifelhaft war, zur Sicherheit grundsätzlich eingesehen. Zusätzlich wurden im Staatsarchiv die Bestände der Stadt, des Landrates und der Regierung Kassel eingesehen. Zudem wurden die Bestände von Parteien und studentischen Vereinen, soweit sie im Staatsarchiv lagern, bearbeitet. Neben dem Staatsarchiv Marburg wurde im Bildarchiv Foto Marburg nach Bildern aus der betrachteten Zeit gesucht. Weiterhin wurden im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden die dortigen Akten nach Hinweisen auf die Marburger Studentenschaft untersucht. Zudem konnten im Bundesarchiv Frankfurt einige Quellen aus dem Archiv der Deutschen Burschenschaft genutzt werden. In Würzburg wurde das Archiv der Reichsstudentenführung über zehn Wochen umfassend genutzt. Zudem konnte dort die Bibliothek und die Quellensammlung des Instituts für Hochschulkunde benutzt werden. In den folgenden acht Wochen wurden die Quellen in den Bundesarchiven in Berlin und Koblenz untersucht. Hierbei handelte es sich um Akten von Behörden, studentischen Organisationen und Vereinen. Zusätzlich zu den schriftlichen Quellen konnten Filme und Bilddokumente aus dem Untersuchungszeitraum, die wertvolle Ergänzungen zu den schriftlichen Quellen boten, im Bundesarchiv Koblenz und im Bundesarchiv Film in Berlin eingesehen werden. Außerdem konnten während eines zwei-wöchigen Aufenthalts in München die Unterlagen des Instituts für Zeitgeschichte in die Forschungen einbezogen werden.

Parallel wurden Privatarchive der Korporationen in Marburg und der Korporationsdachverbände (Wingolf, VVDSt, CC, KSCV, DB, DS) besucht. Dies erforderte hohen Zeitaufwand, da die Archive der Korporationen und ihrer Dachverbände in ganz Deutschland verstreut sind und die Archivare dort meist ehrenamtlich arbeiten, also nur an wenigen Terminen die Zeit aufbringen konnten, die Archive zu öffnen.

Die zeitliche Eingrenzung auf die Jahre von 1925 bis 1945 ergab sich aufgrund mehrerer Aspekte. So hat zum Einstiegszeitpunkt die Kriegsgeneration von den Hochschulen endgültig verlassen und die hohen Studentenzahlen der Nachkriegsjahre gingen schlagartig zurück. Gleichzeitig begann etwa 1925 eine lang anhaltende Phase steigender Studentenzahlen. Zudem waren 1925 die Folgen der Inflation auch für die Studentenschaft überwunden und es startete eine Phase der Ruhe, die u.a. durch eine relative wirtschaftliche Stabilität gefestigt wurde. Mit dem Ende des Dritten Reichs endet auch der Untersuchungszeitraum, da sich nach dem 8. Mai 1945 die institutionellen Rahmenbedingungen schlagartig und drastisch wandelten.

Einen ersten Unterabschnitt der Entwicklung stellen die Jahre von 1925 bis 1933 dar. Politisierung und Radikalisierung sind genauso Schlagworte dieser Zeit wie Blüte des Korporationslebens und Anstieg der Studentenzahlen. Diese Zeit läßt sich, bei relativ starker Kontinuität auf den anderen Ebenen, auf ökonomischer Ebene wiederum in zwei Teilbereiche gliedern. Ihre Trennlinie markiert der Beginn der Weltwirtschaftskrise. Verstärkte und umfassende Radikalisierung der Studentenschaft war die Folge dieser Jahre. In diese Phase fallen in Marburg die Gründung von Hochschulgruppen der Parteien, die Neubauten von Korporationshäusern und das 400. Universitätsjubiläum. Forschung und Lehre hatten in diesen Jahren in Marburg ein bis dato kaum gekanntes Niveau erreicht. Zudem wuchs die Universität von Jahr zu Jahr, die Studentenzahl stieg rapide an, so daß eine Vielzahl von Erweiterungsbauten der Universität errichtet werde mußte.

Mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus endete die erste Phase und es beginnt der zweite Zeitabschnitt von 1933 bis 1936, der durch nationalsozialistischen Aktionismus gekennzeichnet ist. Strukturwandel an der Universität, Einschnitte in die Studienbedingungen und Restriktionen im Studentenleben sind Schlagworte der ersten Jahre des Dritten Reichs. Selten unterlag das Studentenleben einem so starken Wandel auf allen Gebieten des täglichen Lebens wie in diesen Jahren. Erste Versuche, neue Lebensgemeinschaften in Form von Kameradschaften zu errichten, schlugen fehl, Kompetenzstreitigkeiten zwischen den einzelnen Parteiorganisationen waren an der Tagesordnung und die studentischen Funktionäre drängten mit Wort und Tat auf eine Veränderung der Universität im nationalsozialistischen Sinn. Die zweite Phase endet im Sommer 1936 mit dem Ende der aktiven Korporationen, was für die Stadt Marburg von besonderer Bedeutung war, da die Stadt in der Weimarer Republik von ihrem Ruf als Korporationenstadt lebte.
Im Herbst 1936 begann mit der Gleichschaltung aller studentischen Organisationen zur Reichsstudentenführung die dritte Phase von 1936 bis 1939. Nachdem in den ersten Jahren des Nationalsozialismus Aktionen das Studentenleben beherrschten, versuchte man sich bis zum Beginn des Krieges mit den gegebenen und kaum veränderbaren Verhältnisse abzufinden, da alte Traditionen nicht restlos beseitigt werden konnten. Eine Phase der Befriedung und der Stabilisierung trat ein. Statt der Korporationen sollen nun die Kameradschaften den gesellschaftlichen Mittelpunkt des Studentenlebens bilden. Zudem erfuhren Studium und politische Schulung jetzt eine endgültige Regelung. Weiterhin wurde der Druck auf alle Studenten verstärkt, um sie zu erfassen und im Sinne des Nationalsozialismus zu prägen

Die vierte Phase von 1939 bis 1945 endlich beschreibt die Studentenschaft im Krieg. Die Schwerpunkte dieses Zeitabschnitts sind auch in Marburg Entpolitisierung, Rückbesinnung auf alte, verbotene Traditionen und organisatorisches Chaos. Schnell nach Kriegsbeginn ist feststellbar, daß die Funktionäre nicht mehr vor Ort waren und die Organisation des NSDStB nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Vielmehr machte sind schon bald nach Kriegsbeginn die Tendenz bemerkbar, daß die Studenten das alte Studentenleben wiederaufleben ließen. Dies war durch den persönlichen Freiraum, den sich die Studenten und verstärkt auch Studentinnen schafften, möglich. Die Studenten unterstanden meist der Wehrmacht, nicht mehr dem NSDStB, und die Studentinnen konnten sich mit ein wenig Geschick ihren Dienstpflichten gänzlich entziehen. Selbst in offiziellen Aussagen der Studentenfunktionäre und Politiker aus Marburg finden sich solche Entwicklungen bestätigt. Leider ist dieser letzte Zeitabschnitt nur in sehr geringem Umfang durch Quellen nachweisbar, so daß ein Schwerpunkt der Archivarbeit gezielt auf die Suche nach Quellen aus der Zeit nach 1939 gelegt werden mußte.

Pin It on Pinterest