Das Spektrum der historischen Quellen zum Studentenleben ist so breit gefächert und abwechslungsreich wie das Leben der Studierenden selbst. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß auch in der schöngeistigen Literatur im Studentenroman immer wieder Hinweise auf Studenten und ihr Umfeld zu finden sind. Insgesamt sind weit über 500 Romane bekannt, in denen das studentische Milieu im Mittelpunkt steht. An der alma mater Philippina spielen, soweit dem Autor bekannt, drei wesentliche Werke: Walter Bloems „Der Krasse Fuchs“, wohl der Klassiker unter den Studentenromanen schlechthin, und Rudolf Herzogs „Die Welt in Gold“ sind heute noch einigen Interessierten präsent. Völlig unbekannt hingegen ist der von Hjalmar Kutzleb verfaßte Roman „Die Hochwächter“.
Drei Autoren – ein Thema
Den Studentenromanen aller drei Autoren sind mehrere Dinge gemeinsam: Zum einen spielen alle drei Romane ausschließlich in Marburg, zum anderen verarbeiten alle betrachteten Werke, in welchem Umfang auch immer, in Marburg gesammelte Erfahrungen der Autoren. Letztlich zeichnen sich die drei Bücher durch eine für heutige Verhältnisse unmoderne, schwülstige und deshalb gewöhnungsbedürftige Sprache aus. Doch macht gerade diese Mischung den Reiz für den Leser aus.
Der Studentenroman in seinen Marburger Variationen
Bloems Roman[1], der im Jahr 1905 entstand, schildert die Erlebnisse des Studenten Werner Achenbach als jungem Corpsstudenten in Marburg in seinem ersten Semester, dem Sommersemester 1887.
Bloem zeichnet im Klassiker der Studentenromane schlechthin den Alltag eines Studenten am Ende des 19. Jahrhunderts mit allen seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen in einer typischen studentischen Verbindung des Kaiserreichs, hier dem fiktiven Corps Cimbria in Marburg, nach. Er schildert dabei die für die damalige Zeit so typischen alltäglichen Ereignisse: Bloem berichtet über den Ablauf von Kneipen, erzählt in blumiger Art und Weise von den Mensuren, die Achenbachs Konsemester zu bestehen hatten, und beschreibt den mittäglichen gemeinsamen Bummel durch die Stadt. Das Thema Studium läßt er jedoch gänzlich unbeachtet. Vielmehr spielt, wie in so vielen Genreromanen, die holde Weiblichkeit eine wichtige Rolle, denn gerade im Umgang mit den verschiedenen Frauentypen – Altherrentochter, Hauswirtstocher und Dirne – spiegelt sich die Doppelmoral der damaligen Zeit deutlich wider.
Ein Teil des Werkes berichtet auch über den Höhepunkt des Sommers 1887 in Marburg, der Immatrikulation des 1.000 Studenten, die mit einem Fest am Dammelsberg, das die Stadt ausgerichtet hat, begangen wurde. Daneben beschreibt Bloem mehr zufällig und nur ansatzweise auch die Korporationsszene an der alma mater Philippina am Ende des 19. Jahrhunderts.
Was ist Realität und was Fiktion in Bloems Werk? In weiten Teilen trägt Bloems Krasser Fuchs autobiographische Züge, was der Autor, der selbst Mitglied des Corps Teutonia in Marburg war, auch bestätigt. In einem Schreiben aus dem November 1948 an Hermann Bauer, den Marburger Verleger, stellt Bloem nur wenige Jahre vor seinem Tod in kurzen Sätzen einige wesentliche Zusammenhänge rund um das Werk „Der krasse Fuchs“ dar:
„Der Roman entstand im Jahre 1905, also 18 Jahre nach der Zeit, in der er spielt – S.S. 1887 – im Semester des ´Tausendsten Studenten´.
Die Figuren sind fast alle Porträts, allerdings wie bei einem Roman selbstverständlich, zum Zwecke ihrer dramaturgischen Verwendung übermalt.
Die ´Lina´-Affäre stimmt im wesentlichen; das ins Wasser gegangene Mädel war eine Tatsache, aber an seinem Untergange war kein ´Cimber´ beteiligt.
´Scholz´ hat wesentliche Züge von meinem Leibburschen Willy Schultheis, später der berühmte Blasenchirurg in Wildungen.
Die Haupt-Mädchengestalt war ein Fräulein Maria Poppelbaum, ihr jugendlicher Verehrer Klauser mein Korpsbruder Willy Krause[2], später Arzt in Kassel, früh verstorben.
Daß Werner Achenbach manch autobiographische Züge trägt, war s.Zt. allbekannt, er ist Walter Bloem minus dem in der Romanfigur unterschlagenen Dichtertum.“[3]
Der zweite noch heute bekannte Marburger Studentenroman, Herzogs Novelle „Die Welt in Gold“, schildert auf knapp 80 Seiten die Erlebnisse des Professors Klaus Kreuzer zu Beginn des Sommersemesters 1911 in Marburg. Dorthin begleitet er seinen Sohn, der an der alma mater Philippina studieren und bei einer Studentenverbindung aktiv werden will.
In Marburg angekommen wird Kreuzer rasch wieder in seine eigene Jugendzeit zurückversetzt und es wird schnell deutlich, daß er die Unbefangenheit seiner Jugend viel zu früh zu Gunsten einer akademischen Karriere aufgegeben hat. Als personifizierte Erinnerung an die längst vergangene Jugend taucht die Cousine seiner Frau auf, die ihn schon während seiner Studentenzeit verehrt hat. Sie erinnert Kreuzer an seine unbeschwerten Semester in Marburg, so daß er schon zu diesem Zeitpunkt beschließt, sein Leben zu ändern und die eben gemachten Erfahrungen in seine akademische Lehrtätigkeit einfließen zu lassen. Auf diese Weise hofft er, die Sprache der Jugend zu verstehen und ihr Lebensgefühl besser zu begreifen. Endgültig besiegelt wird der Beschluß, seinen Lebenswandel umfassend zu verändern, am Ende des Sommersemesters. Klaus Kreuzer wird von seiner Frau beauftragt, in Marburg nach dem Rechten zu sehen, da Werner Kreuzer das Studium nicht so Ernst nimmt, wie es der Mutter lieb ist. Als der Vater in Marburg ankommt, ist der Sohn jedoch schon mit Kommilitonen in die Sommerfrische gefahren, worauf ihm der Vater, ohne zu zögern, nacheifert und den Wandel in seinem Leben mit einem dreimonatigen Wanderurlaub beginnt.
Rudolf Herzog hatte zur Universität Marburg und zum Studentenleben dort keine persönliche Beziehung. Lediglich durch seinen Schwager, der Mitglied der Burschenschaft Germania Marburg war, bekam er Kontakt mit dem studentischen Leben in Marburg. Die wenigen Erfahrungen, die Herzog während eines dreitägigen Aufenthalts anläßlich der Maikneipe im Jahre 1911 sammeln konnte, hat er später in seiner Novelle verarbeitet. Wie durch Berichte damals Beteiligter belegbar, war der in der Novelle geschilderte Ablauf des studentischen Lebens dem tatsächlichen studentischen Geschehen nachempfunden.
In der Geschichte um Klaus Kreuzers Wandelungen kann jedoch kaum ein realer Bezug gefunden werden. Lediglich ein kurzer Hinweis im Nachruf seines Schwagers, daß dieser zu viel gearbeitet und darüber das Leben vergessen habe, gibt einen vagen Hinweis auf damals lebende Vorbilder.[4]
Daß es dem Schriftsteller Herzog im studentischen Milieu Marburgs gefallen haben muß, zeigt eine Einladung an die Aktivitas der Burschenschaft Germania, die ihn schon kurz nach seinem Marburgaufenthalt zu Himmelfahrt 1911 auf seiner Burg in Bad Honnef besuchte.[5]
Völlig unbekannt hingegen ist der dritte Marburger Studentenroman „Die Hochwächter“ von Hjalmar Kutzleb. Er betrachtet das studentische Leben in Marburg am Vorabend des Ersten Weltkrieges aus einem für Studentenromane ganz ungewöhnlichen Blickwinkel: Kutzlebs Roman stellt das Studentenleben ausnahmsweise nicht aus korporationsstudentischer Sicht dar, er rückt vielmehr das Leben des Erstsemesters Bruno Weißhaupt in einer jugendbewegten Gruppe in den Mittelpunkt des Geschehens.
Kutzleb schildert in seinem Studentenroman die Aufnahme Weishaupts bei den Hochwächtern, einer Gruppe der Jugendbewegung, die sich schon sehr frühzeitig mit dem Thema Frauen als Mitglieder beschäftigte. Im Rahmen dieser Diskussion wird schon bald deutlich, wie heterogen die Gruppe war: Das Spektrum der Mitglieder reichte vom Anarchisten über den Schwärmer bis hin zum Reformer. Einig war man sich in der Gruppe lediglich in der klaren Abneigung gegen das Verbindungsstudententum in allen seinen Facetten, den „Farbenplunder“, wie Kutzleb es formuliert.
Im Laufe der Zeit treten aber gerade in der Diskussion um das Thema Integration der weiblichen Studierenden tiefgreifende und grundlegende Konflikte zwischen Weishaupt und dem Anführer der Gruppe Neubauer auf. Weißhaupt kann die verfahrene Situation – es kommt zu allen Debatten eine ungewollte Schwangerschaft in einer sogenannten Kameradschaftsehe zwischen Neubauer und dem weiblichen Mitglied der Gruppe hinzu – jedoch klären. Immer offensichtlicher werden dabei aber die fundamentalen Gegensätze zwischen Neubauer, der sich sehr intensiv auf das Treffen auf dem Hohen Meißner vorbereitet, und Weißhaupt, dem die Menschen und ihre Gemeinschaft selbst mehr am Herzen liegen als Organisationsformen und unklar definierte Reformbestrebungen.
Auch Hjalmar Kutzleb hat Teile seiner Studienzeit in Marburg verbracht und bringt die dort gemachten Erfahrungen in den Studentenroman „Die Hochwächter“ ein.[6] Selbst dem unbedarften Leser vermittelt das Werk schnell den Eindruck, als ob die Hauptperson von Kutzlebs Roman autobiographische Züge trägt. Daß es sich bei dem Studenten Weißhaupt tatsächlich um den Autor selbst handelt, wird in einem Nachruf auf Hjalmar Kutzleb, den sein Sohn Gero verfaßt hat, deutlich, wenn er schreibt: „Als junger Mensch hatte er [d.h. Hjalmar Kutzleb, d.V.] die für ihn so entscheidende Begegnung mit der Wandervogelbewegung, der er sich sofort mit Haut und Haar verschrieb. Diese Zeit gestaltete er später in dem Studentenroman ´Die Höchwächter´.“[7] Ähnlich sieht es auch Stapel bereits 1941 als er attestiert, daß der Roman „viel Selbsterlebtes“[8] enthielte. Weitere Details sind leider bisher nicht bekannt, da sich das Leben im freistudentischen Umfeld vielfach im Verborgenen abgespielt hat und es „keine Statistik, keine ´Verfassung´, überhaupt nicht irgend etwas Aktenmäßiges“[9] zur Freistudentenschaft allgemein und zu ihren Organisationen gibt, wie es ein Marburger Freistudent Anfang der 30er Jahre formulierte.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Trotz aller Unterschiede finden sich in den drei Romanen einige recht interessante Gemeinsamkeiten, die Autoren oder den Inhalt betreffend. So kannten sich Bloem und Herzog von Jugend an aus Wuppertal und begegneten sich auch immer wieder, so beispielsweise sogar auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, wie aus den Biographien beider ersichtlich wird. Auch finden sich bei beiden Autoren verblüffend ähnliche Lebensentwürfe: Beide sind u.a. Eigentümer von Burganlagen, ihre gesellschaftspolitische Haltung gerade in den Jahren nach 1918 ist vergleichbar und ihr Ruhm verblaßte nach 1945 schlagartig.
Die Werke von Kutzleb und Herzog hingegen spielen zufällig im gleichen Jahr: Sowohl Werner Kreuzer, als auch Bruno Weishaupt beginnen ihr Studium in Marburg im Sommer 1911, waren also Konsemester.
Allen drei Romanen ist gemeinsam, daß Frauen, in welcher Funktion auch immer, eine Schlüsselrolle haben und der Handlung die entscheidende Wendung geben. Zudem stellen alle drei Bücher die Marburger Verhältnisse aus einem jeweils ganz individuellen Blickwinkel, aber immer sehr blumig und verklärend, dar.
Für denjenigen, der sich mit der Marburger Hochschulgeschichte auseinandersetzt, ist die Lektüre von Bloem, Herzog und Kutzleb ein Muß. Alle drei Werke sind auch heute interessante und deswegen durchaus noch lesenswerte Quellen, die einen Einblick in das Studentenleben der Kaiserzeit an der Universität Marburg geben. Daß Sprache und Stil auch aus dieser längst vergangenen Zeit stammen, macht dabei den eigentlichen Charme dieser Genreromane aus.
Anmerkung:
Im Laufe der Zeit habe ich noch weitere Studentenromane, in denen Studenten der alma mater Philippina eine wichtige Rolle spielen, “entdeckt”. Diese Romane sind aber beim besten Willen keine Klassiker geworden. Einen Überblick über die bekannten Marburger Studentenromane gibt folgende Grafik.
[1] Zu Bloems Werk ausführlich: Zinn, Holger: „Der krasse Fuchs“. Literarischer Beitrag des alten Corpsstudenten Walter Bloem zur Marburger Universitätsgeschichte und seine Hintergründe, in: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, Band 48 (2003), S. 327-337.
[2] Vgl. Verband alter Marburger Teutonen (Hg.): Blaubuch des Corps Teutonia zu Marburg 1825 bis 1925, Elberfeld 1925, S. 167: Schultheis, Wilhelm, geboren 2. Februar 1865 in Kassel, rezipiert 26. Juni 1886, ab 1896 Chirurg und Urologe in Bad Wildungen. Krause, Wilhelm, geboren am 13. Februar 1865 in Gottsbüren, rezipiert 14. Juni 1887, Mediziner, ab 1895 praktischer Arzt in Kassel, gestorben am 26. Dezember 1905.
[3] Brief Walter Bloem an Hermann Bauer vom 29. November 1948. Diese wertvolle Quelle verdankt der Autor Herrn Carl Bühner Marburg.
[4] Zeitschrift der Burschenschaft Germania Marburg vom Juni 1926, S. 9-10.
[5] Zeitschrift der Burschenschaft Germania Marburg vom Dezember 1962, S. 5-6, Art. „Der Himmelfahrtsbummel 1911 zu Rudolf Herzog“.
[6] Vgl. ausführlich Zinn, Holger: Hjalmar Kutzleb, ein Autor mit Weilburger Vergangenheit, in: Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Wilinaburgia, 80. Jg., Nr. 216 vom März 2005, S. 10-13.
[7] Vereinigung ehemaliger Schüler des Gymnasiums Ernestinum zu Gotha (Hg.): In memoriam Kutzleb, Steinau bei Schlüchtern 1968, S. 5 Zuerst erschienen als Gabe der Familie an die Freunde Hjalmar Kutzlebs.
[8] Stapel, Wilhelm: Hjalmar Kutzleb, in Vesper, Will (Hg.): Die Neue Literatur, Jg. 42 (1941), Heft. 10, S. 240-248, hier S. 242.
[9] Westdeutsche Akademische Rundschau, Jg. 1, Nr. 4, S. 3, Art. „Studentische Gemeinschaft.“. Beim Autor handelt es sich um Edo Osterloh, den ehemaligen zweiten Vorsitzer der Marburger Studentenschaft, der selbst Freistudent war.